Mal ganz was anderes ...

Ich konnte das Geschichten-Erzählen schon früher nicht lassen ... hier findet ihr meine Abschlussarbeit, die ich für meine Ausbildung in Kräuterkunde am ThoR-Institut abgab. Nicht sehr wissenschaftlich auf den ersten Blick, aber inhaltlich dennoch mit allen Pflanzenspezifischen Infos ... angeblich sprach man bei ThoR noch Jahre später von dieser Arbeit :-)

Die Tendenz, Dinge anders zu tun als andere, ist mir geblieben. Bei ThoR brachte es mir Lob und einen guten Abschluss, ansonsten mach ich mir damit aber wohl oft das Leben schwerer als nötig ...

 

 

Die Wegbegleiter

 

"Psst", sagte Breitwegerich, als sein Cousin Spitzwegerich ihn besuchen kam, "psst, du musst leise sein."

 "Leise? Wieso? Was ist, alter Freund, darf ich dich denn nicht begrüßen?" Erschrocken blickte er sich um: "Oder sind Menschen in der Nähe?"

 "Nein, keine Menschen, aber sie schläft."

 "Wer?"

 "Na sie, die Schönste." Verstohlen deutete Breitwegerich mit seinem langen Köpfchen zum Wegesrand.

 "Was, dieses dürre, verblühte Ding?"

 "Ach Spitzwegerich, sie ist doch nicht verblüht, sie schläft nur, wie jeden Nachmittag."

 Spitzwegerich schüttelte den Kopf, dass seine Kronenhaare nur so flogen. "Schläft? Am Nachmittag? Welche normale Pflanze schläft am Nachmittag, wenn die Sonne am schönsten scheint? Ihr Typen vom Wege habt sie wohl nicht alle. Auf meiner Wiese käme keiner auf die Idee, am Nachmittag zu schlafen, tss…der sind wohl die Autoabgase zu Kopfe gestiegen!"

 "Nicht so laut, Spitzwegerich, nicht so laut! Und ganz im Gegenteil, der Schönsten sind keine Autoabgase zu Kopfe gestiegen, denn ihre Art schläft seit Ewigkeiten am Nachmittag. Ihre Schwestern, die nahe bei den Menschen mit ihren Stromleitungen und Autoabgasen leben, die haben das verlernt und sind auch am Nachmittag wach."

 "Aber bitte, was findest du denn an der, dass du sie Schönste nennst? Schau sie doch an – sie hat nichts, was es wert wäre, Blatt genannt zu werden. Vergleich doch nur diese kleinen, mickrigen Dinger mit deinen runden, weichen Blättern – oder mit meinen eleganten, glatten, spitzen. Die sieht doch völlig verhungert aus!"

 Breitwegerich warf einen langen, sehnsüchtigen Blick auf seine Schönste. Er seufzte, beugte seinen länglichen Kopf zu seinem Cousin und flüsterte: "Es ist die Liebe! Sie verzehrt sich vor Liebe, ist das nicht romantisch?"

 Spitzwegerich bekam einen Lachanfall. "Aber nicht vor Liebe zu dir, oder?"

 Breitwegerichs weißes Köpfchen färbte sich rotbraun. Spitzwegerich stupste ihn mit einem seiner Blätter an. "He, das war doch nur ein Scherz, du alter Romantiker! Du hast doch schon immer alles schön und romantisch gefunden. Hast dich extra mitten auf den Weg zum Friedhof gesetzt, weil du es so romantisch fandest, wenn die Menschen am Weg ins Jenseits auf dich stiegen."

 "So bin ich nun mal. Ich liebe es, mich an der Menschen Füße zu schmiegen und meinen Samen von ihnen forttragen zu lassen. Sie können so weit gehen, die Menschen, und überall ging ich mit. Wusstest du, dass meinereiner sogar nach Amerika ging? Sie nannten mich "die Fußstapfen des weißen Mannes", wusstest du das?"

 Spitzwegerich zuckte die Blätter, "Jaja, das wusste ich. Wieso sonst würden wir Plantago heißen, von lateinisch planta - Fußsohle? Und was hat das jetzt mit ihrer Liebe zu tun?" Er deutete mit seinem Kopf zum Wegesrand.

 Verlegen senkte Breitwegerich den Kopf. "Nichts, gar nichts. Ich dachte nur – weil du – also, ihre Liebe… das war ein Jüngling –"

 "Die blöde Kuh hat sich in einen Menschen verliebt?", unterbrach Spitzwegerich ihn.

 "Aber nein. Oder ja. Aber ja, sie war doch auch ein Mensch, früher mal… und da ist es doch normal, dass sie einen Jüngling liebte, nicht? Also, sie liebte ihn. Doch er musste fort. Ich weiß nicht, mal sagt sie, er musste auf etwas genannt "Kreuzzug", dann wieder meint sie, das wäre später gewesen, noch früher wäre er ein Sonnengott gewesen und sie eine Vegetationsgöttin – wie auch immer, er musste fort, und sie stellte sich an den Wegesrand und wartete, und blickte sehnsüchtig gen Osten, woher er kommen sollte, und sie wartete… und alle sagten ihr, sie solle doch einen anderen nehmen, aber sie liebte ihn sosehr, dass sie lieber zu einer Blume wurde, als ihm untreu zu werden. Und so wartet sie noch heute, Tag für Tag, von Sonnenaufgang bis Mittag. Ist das nicht wunderschön romantisch?", seufzte Breitwegerich.

 "Romantisch, pfff. Ich würde sagen, die Frau klammert, die kann nicht loslassen, verweigert sich dem Leben. Wenn ich Bach wäre – "

 "Der Musiker?"

 "Nein, der Typ mit den Blütenessenzen, du weißt schon, der alle möglichen unserer Freunde pflückt und für irgendwelche Problemchen und Krankheiten der Menschen zu Wässerchen macht."

 "Ach der. Ich dachte, du meinst den, der so schöne Lieder schrieb…"

 "- was wollte ich jetzt sagen? Du mit deiner Musik, jetzt hab ich's vergessen. Ach ja, also, wenn ich Bach wäre – der mit den Blüten, ja? – also, ich würde deine Freundin all den kleinen Kindern einträufeln, die an Mamas Rockschoß hängen und immer so jammern und quengeln, wenn ihre Mama sich auf unserer Wiese auch nur einen Schritt von ihnen entfernt."

 "Du bist heute so zynisch."

 "Nein, ich bin nur emotional. Das hat mir die weise Eule erzählt. "Der dem Spitzwegerich entsprechende Konstitutionstyp hat intensive Gefühle. Er ist ein Hitzkopf und fühlt sich schnell angegriffen.", das hat sie gesagt."

 "Ja, das habe ich auch gehört… aber sie sagte weiter, dass der Spitzwegerich eben diese Emotionalität kühlt und mit einer schützenden Schicht überzieht."

 "Echt? Mist. Und ich hatte solchen Spaß daran, aufbrausend zu sein."

 "Sieh es ein, Spitzwegerich, wir sind kühlende Vermittler. In uns brennt kein Feuer, in uns fließt heilender Schleim."

 "In uns brennt kein Feuer, ha! Sie dir meine Krone an, sieht sie nicht aus, als würde sie Funken sprühen? Und meine Blätter, sehen sie nicht aus wie Flammen?"

 "Aber ja doch", versuchte Breitwegerich seinen Cousin zu beruhigen, "Natürlich, aber das ist es ja, was man Signatur nennt. Weil dein Kopf Funken sprüht, bist du gut für Menschen, denen der Kopf explodiert. Weil unsere Blätter aussehen wie Muskelstränge sind wir gut für Menschen, die durch ihre Emotionalität ihre Lebenskraft schwächen."

 "Mensch, Breitwegerich, musst du dir denn immer alles merken, was die weise Eule vorträgt? Und was haben Muskeln mit Emotionen zu tun, häh?"

 "Naja, also", stotterte Breitwegerich, "soweit ich verstanden habe – also Muskeln erlauben Bewegung, das heißt Motion im Lateinischen und Emotion ist seelische Bewegung – also, das sagt die Eule, also ich meine…"

 "Ha!" rief Spitzwegerich, "Ha, du verstehst also auch nicht alles, was sie sagt! Aber nur immer brav zustimmen, gelt, die heiße Luft besänftigen, nicht?!"

 "Verzeihung," erklang eine zarte Stimme vom Wegesrand, "wäre es zuviel verlangt, wenn ich Sie bitte, etwas leiser zu sein?"

 Spitzwegerich wendete den Kopf.

 "Ach, Madame ist aufgewacht. Hat Madame gut geschlafen?"

 Breitwegerich errötete. "Spitzwegerich, du sollst nett sein. Sie hat doch solchen Kummer."

 Spitzwegerich machte eine kunstvolle Verbeugung, "Ich bütte vülmals um Verzeuhung. Üch bün neu hür und hatte noch nücht die Ehre…"

 "Oh…. ist er ein Nobelmann? Etwa gar ein Ritter? Denn wisst, mein Liebster war ein Rittersmann, oh, vielleicht kanntet ihr ihn?"

 "Tut leid, nein, ich bin kein Ritter. Aber es freut mich, dass ihr die Nobless in meiner Gestalt zu würdigen wisst, das tun wenige… Gestatten, Plantago lanceolate. Doch meine Freunde nennen mich Spitzwegerich."

 "Sehr erfreut, Cichorium intybus. Doch ihr dürft Wegwarte zu mir sagen." Schüchtern öffnete Wegwarte eine ihrer Blüten.

 Breitwegerich flüsterte Spitzwegerich zu: "Du Glückspilz! Oh sieh nur dieses Blau, ist das nicht umwerfend? Dagegen ist unser schmutziges Weiß eine Schande."

 Zu seinem eigenen Ärger musste Spitzwegerich zugeben, dass die blauen Blüten von Wegwarte wirklich unglaublich waren. Damit hatte er nicht gerechnet, dass diese spröde Gestalt eine derartige Schönheit verbarg. Nicht so üppig wie die Blüten von Ringelblume, aber in ihrer Zartheit und ihrem Blau atemberaubend.

 Wegwarte musterte ihn.

 "Seid ihr ein Freund von Breitwegerich? Zu Besuch?"

 "Oh, wir sind mehr als Freunde," sagte Breitwegerich rasch, "wir sind Cousins, Brüder."

 "Wirklich? Lasst euch betrachten."

 Eilig stellten Breitwegerich und Spitzwegerich sich nebeneinander, reckten ihre Köpfchen in die Höhe und lächelten.

 "Ja wahrlich, ich sehe es, die Familienähnlichkeit… doch die Unterschiede! Der eine hat einen viel längeren Kopf, aber viel kürzere, rundere Blätter. Dafür ist der andere dunkler. Oh Spitzwegerich", lachte sie, "ihr seht aus wie ein Kind in der Schule, das eifrig sein dürres Händchen in die Luft hebt, um dranzukommen!"

 Breitwegerich konnte ein Kichern nicht unterdrücken, als er sah, dass Spitzwegerich verlegen den Kopf senkte. War sein Cousin denn auch dem Zauber der Wegwarte erlegen.

 "Nun, werte Wegwarte, ich bin es auch wert, dranzukommen. Denn seht, die Menschen schätzen mich, auch wenn ich unscheinbar aussehe. Die Kinder brauchen mich, wenn sie Husten haben. Die alten Weiber pflücken mich und legen mich mit wunderbar süßem Zucker in ein großes Glas, mit dem sie mich dann für drei Monate in den Leib der Mutter Erde versenken, um mich dann als Hustensaft wieder zu gebären. Und wenn ein Insekt sie sticht, oder sie eine Wunde haben, so bin ich schnell zur Hand, um zu kühlen." Er warf Wegwarte einen skeptischen Blick zu. "Seid ihr denn den Menschen zu etwas gut, außer dass ihr sie an verlorene Liebe erinnert?"

 Wegwarte senkte den Kopf und schloss ihre Blüte wieder.

 "Ach, nun hast du sie beleidigt, du grober Klotz!", schimpfte Breitwegerich. Doch da erhob Wegwarte stolz ihren Kopf, öffnete gleich mehrere ihrer umwerfenden Blüten und lächelte Spitzwegerich an.

 "Glaubt nur nicht, dass ich mich unterkriegen lasse von euch! Meine Heilkraft ist mannigfach. Ihr könnt noch so gemein sein, ich entgifte alles, selbst schwerste Gifte wie Blei. Und nicht nur das, in Zeiten der Not gab ich den Menschen ein Gefühl von Luxus – als sie keinen Kaffee kaufen konnten, machten sie aus meinen Wurzeln Zichorienkaffee. Die Menschen lieben Kaffee. Ich bezweifle, dass sie Hustensaft ebenso lieben…"

 "Touché, Madame, touché. Es ist wunderbar, mit euch zu plaudern. Denn wisst, sosehr ich meinen lieben Cousin schätze, er ist doch zu weichherzig. Er vergisst zu gerne, dass der Name Wegerich vom althochdeutschen wega – Weg und rih - König kommt und wird zusehr zum "Wegtritt" wie man uns auch nennt, er wird zu bereitwillig Opfer..."

 "Ich bin nicht Opfer!," widersprach Breitwegerich," ich liebe es nur, zu helfen, zu heilen. Den Menschen Linderung zu bringen, ihre Lunge zu besänftigen, die Blasen an ihren Füßen zu heilen…"

 "Jaja, das tue ich ja auch, ich kenne sie alle, die Heilzauber. Wusstet ihr, werte Wegwarte – nein, das hat Breitwegerich in seiner Beschiedenheit euch sicher nicht erzählt – wusstet ihr, dass wir bereits im altenglischen Neunkräutersegen erwähnt werden, als Kraut der Proserpina, der Göttin der Unterwelt? Und auch für euch wären wir hilfreich, denn gegen Liebeskummer soll es helfen, fünf Tage lang Spitzwegerichtee zu trinken. Wir helfen gegen Fieber, verhindern zu starke Blutungen bei Geburten, Ohrenschmerzen, Kopfschmerzen, gegen Dämonen, um die Liebe aller Menschen zu garantieren – jaja, wenn ihr wüsstet, was alles in uns steckt…" Selbstbewusst streckte er seinen Kopf in die Höhe.

 Milde lächelte Wegwarte ihn an.

 "Nun, der eifrige kleine Schüler, jaja. Mit eurem Neunkräutersegen könnt ihr mich nicht beeindrucken. Ich bin bereits seit dem 4. vorchristlichen Jahrhundert bekannt."

 "Äh, verzeiht, Wegwarte…", wagte Breitwegerich zu sagen, "aber Spitzwegerich vergaß zu erwähnen, dass man uns bereits in der Steinzeit kannte." Als er merkte, dass er nun seine bewunderte Wegwarte beleidigt hatte, fügte er schnell hinzu: "aber ich glaube, die Steinzeit war erst nach Christus…"

 Wegwarte lächelte zufrieden. Spitzwegerich gab ihm einen Stoß und zischte "Schleimer."

 "Wie gesagt", fuhr Wegwarte fort, "bereits im 4. vorchristlichen Jahrhundert. Paracelsus, der berühmte Paracelsus, sprach über mich und meinte, alle sieben Jahre verwandle sich meine Wurzel in einen Vogel…"

 Spitzwegerich musste ein Grinsen unterdrücken, als er sich vorstellte, wie aus der Wurzel ein Vogel wurde, der dann jämmerlich im tiefen Erdreich erstickte. Wegwarte blickte ihn scharf an. "Das ist metaphorisch gemeint. Falls ihr versteht, was das bedeutet."

 Spitzwegerich verstand es nicht, aber er hätte sich lieber die Zunge abgebissen, als das zuzugeben.

 "Und bei Geburten rief man mich ebenso, nicht erst um Blutungen zu stillen, sondern um von Anfang an die Geburt zu erleichtern. Augenleiden, Impotenz, Unfruchtbarkeit. Gerichtsverhandlungen, Beliebtheit, Anämie, Ekzeme, Diabetes, ach, die Liste ist so lang, es ist unglaublich, wofür die Menschen mich brauchen. Ich verausgabe mich regelrecht für sie, dabei habe ich doch wahrlich genug mit mir selbst zu tun." Seufzend hörte sie auf, ihre Tugenden an ihren Blättern abzuzählen.

 "Jaja, man sieht ja, wie ihr euch verausgabt habt, ihr seid ja Haut und Knochen, wie die Menschen sagen," stichelte Spitzwegerich.

 "Dafür habt ihr wunderbare Blüten", beeilte sich Breitwegerich zu sagen.

 "Ihr lasst euch täuschen, werter Spitzwegerich. Seht meine Rosette an, sie ist üppig wie der Löwenzahn. Was ihr dürr nennt, ist einfach konzentrierte Kraft."

 "Nun dennoch, ihr wirkt vertrocknet. Seht mich an, seht wie meine Blätter glänzen, wie sie nur so strotzen vor Feuchte und Saft. Selbst Breitwegerich, der am staubigen Wege haust, hat noch Blätter voller Saft und Kraft. Wir beruhigen, kühlen – das Gefühl habe ich bei euch nicht."

"So, habt ihr das nicht? Nun, jeder hat seine eigene Aufgabe, nicht? Seht die Menschen heute an, wie sehr sie es brauchen, zu entgiften. Da ist es mit oberflächlichem Kühlen nicht getan."

 "Oberflächlich!", tobte Spitzwegerich, "ihr nennt mich oberflächlich?!"

 Breitwegerich eilte sich, die beiden zu beruhigen: "Nun kommt schon, wir wollen doch nicht streiten! Seht, wir haben doch so viel gemein! Alle wachsen wir am Wegesrand – auch du, Spitzwegerich", fügte er hinzu, als Spitzwegerich zu einem Einwand anhob, "auch du, selbst wenn du gerne in der Wiese lebst, so suchst du doch Plätze, wo Menschen oder Tiere gehen. Wir alle dienen den Menschen ihr Leben lang, wir – wir sind doch alle Pflanzen, nicht? Da muss man doch nicht streiten!"

 "Ach Breitwegerich, " säuselte Wegwarte, " du bist ein wahrer Freund, immer bereit, zu trösten und zu schlichten. Mit dir ist das Warten auf meinen Liebsten viel besser zu ertragen."

 "Jaja, er ist der Beste," brummte Spitzwegerich, "aber Wegwarte, seht doch ein, er wird nicht wiederkommen, euer Liebster. Löst euch aus der Vergangenheit! Der Typ ist längst Staub und Asche, was wollt ihr ihm auf ewig treu bleiben?"

 "Nein, Spitzwegerich, das tue ich nicht. Man muss sich selbst treu bleiben. Mein Platz ist hier am Wegesrand, auf ihn wartend, damit die Menschen es immer sehen."

 "Damit sie was sehen? Wie ihr euer Leben vertut? Also, bestenfalls dient ihr ihnen als schlechtes Beispiel, als Mahnung daran, NICHT so im Gestern hängen zu bleiben, sondern den Augenblick zu leben."

 Wissend lächelte Wegwarte: "Eben."

 Spitzwegerich verstummte. Er begann zu verstehen. Er, der Hitzkopf, kühlte. Sie, die Gestrige, führte die Menschen ins Jetzt.

 Plötzlich rief Breitwegerich: "Achtung! Menschen!"

 Sofort verstummten die drei und wiegten sich sanft im Wind. Ein Mädchen kam gelaufen und bleib auf Breitwegerich stehen. Genüsslich schmiegte er sich an ihre Füße.

 "Mama, schau, die schöne Blume!" und schon hatte sie eine Blüte von Wegwarte gepflückt und steckte sie in ihr Haar.

"Die musst du aber daheim gleich in eine Vase geben", mahnte ihre Mutter und zog das Mädchen weiter.

 "Ahh" seufzte Breitwegerich wohlig, während Wegwarte ihre Verwundung befühlte.

 "Seid nicht traurig, Wegwarte, eure Blüte wird dem Mädchen sicher noch viel Freude machen," versuchte Spitzwegerich sie zu trösten.

 "Wird sie nicht," meinte Breitwegerich trotzig, "Du weißt auch gar nichts. Wegwartes Blüten blühen immer nur einen Tag, diese gepflückte Blüte wird sich nicht mehr öffnen."

 "Aber ich dachte – früher, da haben doch die Mädchen Wegwarteblüten in ihr Mieder gesteckt, und wenn sie erblühte, dann hieß das, ihnen wäre die Liebe hold?"

 "Ja, da habt ihr recht, Spitzwegerich, aber wisst, die klugen Mädchen steckten Knospen in ihren Busen… die anderen wurden enttäuscht." Wegwarte lächelte bereits wieder tapfer.

 "Ist es nicht herrlich, wie viel Macht uns die Menschen immer schon gaben? All diese Zaubertränke, Zaubersprüche – immer waren wir im Mittelpunkt. Glaubt ihr, dass wir wirklich all diese Fähigkeiten haben, oder bilden sich die Menschen das nur ein?", fragte Breitwegerich in die entstandene Stille.

 "Du meinst, ob man wirklich verlorene Gegenstände wieder findet, wenn man meine Wurzel unter sein Kopfkissen legt? Solche Zauber?" erkundigte sich Wegwarte.

 "Das glauben die Menschen wirklich?", lachte Spitzwegerich. "Also, ich kann ja noch verstehen, dass eine meiner Wurzeln in der Hosentasche den Menschen vor Schlangenbissen schützt – das liegt einfach an meinem Duft, den die Schlangen nicht mögen, aber Hellsichtigkeit, also wirklich."

 Breitwegerich versuchte mal wieder zu schlichten: "Nun, vielleicht sind es ja auch bestimmte Duftstoffe in Wegwarte, die die Menschen hellsichtig machen."

 Verzweifelt griff sich Spitzwegerich mit den Blättern an die Krone: "Also wirklich, Breitwegerich, an dir merkt man eindeutig, dass wir der Venus zugeordnet werden… immer lieb und nett sein, immer es allen recht machen…"

 "Und an dir merkt man das Hustenmittel,", erwiderte Breitwegerich ungewöhnlich bockig, "du spuckst immer nur alles so aus dir raus."

 "Jungs", mischte sich Wegwarte ein, "Jungs, nur die Ruhe. Seht, ich bin der Sonne zugeordnet, ich will sonniges Strahlen in euch bringen."

 "Wie recht du hast, schönste Wegwarte", säuselte Breitwegerich, "und es ist doch eigentlich egal, ob unser Zauber hilft, weil wir so mächtig sind, oder ob er hilft, weil die Menschen es glauben. Hauptsache, wir können ihnen dienen."

 "Ach Breitwegerich, ich bin wahrlich froh, dass du neben mir wächst. Deine Worte sind immer wie Labsal auf meiner wunden Seele. Wer weiß, vielleicht verliebe ich mich eines Tages noch in dich", lächelte Wegwarte schüchtern.

Breitwegerich errötete vollends. "Nun, wie gesagt, wir helfen auch gegen Liebeskummer…", stotterte er, während Spitzwegerich über so viel Gefühlsduselei nur den Kopf schüttelte.

 Inzwischen war es Abend geworden. Von der benachbarten Weide marschierten die Kühe nach Hause in den Stall. Lisa, die schönste Kuh von allen, blieb am Weg stehen. Seit Tagen fühlte sie sich nicht so recht wohl. Da erblickte sie die Wegeriche. Ihrem Instinkt vertrauend, umschlang sie beide mit ihrer rauen Zunge und fraß sie auf. Zufrieden rülpste sie und stapfte weiter.

Traurig schloss Wegwarte ihre Blüten. Mal wieder hatte sich bewiesen, dass es ihr Schicksal war, alleine am Wegesrand zu stehen und auf ihren Liebsten zu warten.

 

Kommentar schreiben

Kommentare: 0