Geschichte des Monats: Glück oder Unglück?

 

Es war einmal – und die Geschichte ist wahr, auch wenn sie nie geschehen ist – da lebte ein Mann, der besaß nicht viel. Einzig ein wuderschönes Pferd konnte er sein eigen nennen, um das ihn alle beneideten. Viele hatten es ihm schon abkaufen wollen, doch er weigerte sich.

 

Eines Tages war das Pferd verschwunden.

 

Was hielten die Leute dem Mann nun seine Dummheit vor!

 

„Hättest du es verkauft, so wärst du nun reich! Nun hast du weder Geld noch Pferd, was für ein Unglück!“

 

Da sagte der Mann: „Wir wissen nicht, ob es ein Unglück ist. Wir wissen nur, dass mein Pferd nicht mehr hier ist, alles andere können wir nur vermuten. Wer weiß, ob es nicht zum Besten ist.“

 

Die Leute lachten ihn aus. Ganz offensichtlich war der Mann verrückt geworden.

 

Doch zwei Wochen später lachten die Leute nicht mehr. Das Pferd war nicht gestohlen worden, sondern davongelaufen und kam nun mit zwölf anderen Wildpferden zurück.

 

„Du hattest recht“, sagten die Leute. „Es war wahrlich ein Glück, dass dein Pferd verschwunden ist!“

 

„Das wissen wir nicht“, sagte der Mann. „Wir wissen nur, dass es mit zwölf anderen zurück ist, aber ob das ein Glück oder Unglück ist, wissen wir nicht. Man kann nicht von einer Note auf das ganze Lied schließen.

 

Die Leute schüttelten den Kopf über den Mann. Dreizehn wunderschöne Pferde, wie sollte dieser Reichtum kein Glück sein!
Doch bald darauf versuchte der Sohn des Mannes, die Wildpferde zuzureiten. Er stürzte dabei und brach sich das Bein.

 

„Wie recht du hattest“, sagten die Leute, „ein Unglück waren die Pferde!“

 

„Das wissen wir nicht“, sagte der Mann. „Ein einzelner Satz lässt nicht auf das ganze Buch schließen.“

 

Und tatsächlich, bald darauf brach Krieg aus und die Söhne der anderen Männer mussten einrücken – nur der Sohn des Mannes, mit seinem gebrochenen Bein, nicht.

 

„Ach, es war doch Glück!“, sagten die Leute, die schon lange nicht mehr über den Mann lachten. Und so ging es sein Leben lang weiter, mal war es Glück, mal Unglück, und immer hielt er sie dazu an, nicht an einer Note, einem Wort oder einem Pinselstrich das Ganze beurteilen zu wollen.

 

Eines Tages starb der Mann. Als man ihn begrub, da kam ein Fremder ins Dorf, der staunte über die Gepflogenheiten hier. Denn die Menschen spielten traurige und fröhliche Musik, sie weinten und lachten. Er fragte nach dem Grund.

 

„Ach“, sagten sie, „Ein weiser Mann ist gestorben und er lehrte uns, dass man nie weiß, ob etwas gut oder schlecht ist. Nie kennt man alle Ursachen, die zu einem Ereignis geführt haben, und noch viel weniger kann man die Auswirkungen kennen, die es haben wird. Vielleicht ist sein Tod ein Unglück für ihn und für uns, vielleicht ist er aber auch ein Glück, wer weiß. Wir Menschen sehen immer nur einzelne Pinselstriche und Farbtupfer, das Bild des großen Ganzen können bestenfalls die Götter sehen.“

 

Sie luden den Fremden ein, zu trinken und zu essen.

 

Und der Fremde weinte und lachte mit ihnen, denn wer wusste schon, ob etwas tatsächlich ein Unglück, oder vielleicht doch ein Glück war.

 

 

Dies ist eine Variante einer Geschichte, die ich in Kristina Reftels wunderschönem Buch "Ich habe nach dir gewonnen" gelesen habe.

 

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Kommentare: 1
  • #1

    Marianne Reitbauer (Freitag, 01 Juli 2022 17:12)

    Liebe Marion.
    Immer schön von dir zu hören und zu lesen.
    Freue mich schon auf die kalten wärmenden Seiten deines neuen Buches der Wortflechterin.
    Herzlichst Marianne