Die Geschichte des Monats erneuert sich jeden Monat um den 15. herum.

 

 

AUGUST 2025

Die Feensalbe

 Hier findet ihr das Audio zur Geschichte

 

 

Es war einmal vor langer Zeit, da lebte ein Ehepaar, das hatte einen Hof, der war gerade groß genug, sie zu ernähren, und klein genug, dass ihrer beider Hande genug waren, die Arbeit zu leisten. Sie lebten außerhalb des Dorfes und waren doch Teil davon, denn die Frau war Hebamme und hatte schon vielen Menschlein auf diese Welt geholfen.

 

Doch wie das Leben so ist, so ändert es sich, und der Mann starb. Nun war die Arbeit zu viel und nach einem einsamen Winter beschloss die Hebamme, sich eine Magd zu nehmen. Kräftig sollte sie sein und von freundlicher Art, und vor allem gewissenhaft und sauber.

 

So schulterte die Hebamme einen großen Korb voll der köstlichsten Zwetschken und ging auf den Markt, wo in einer Ecke immer jene jungen Burschen und Mädchen standen, die eine Stelle als Dienstboten suchten. Sie alle hatten kräftige Arme und sie alle bemühten sich um ein freundliches Gesicht, auch waren die meisten sauber und adrett gekleidet. Wie sollte sie nun wissen, wer sich nur gesäubert hatte, um eine Stelle zu bekommen, und wer tatsächlich gewissenhaft sauber war?

 

Die Hebamme stellte ihren Korb ab und sagte: "Bringt mir all den Staub und Dreck aus eurem Zimmer, aus eurer Hütte, und ich will euch dafür Zwetschken geben."

 

Da liefen die jungen Leute los, und schon bald kehrten sie zurück – die einen truchen Kübel voller Staub mit sich, einer hatte sogar eine ganze Scheibtruhe voll, andere hatten ihre Schürzen hochgebunden und brachten so all ihren Staub und Lurch. Die Hebamme gab jedem von den Zwetschken, doch sie sprach mit keinem. Gegen Abend kam noch eine Dienstmagd angelaufen, sie hatte kräftige Arme und ein offenes, freundliches Gesicht. "Verzeiht", sagte sie, "dass ich so spät komme, doch ich musste erst den ganzen Staub in meinem Zimmer zusammensammeln." Und sie öffnete ihre Hand, und da, mitten auf ihrer Handfläche, war ein kleines Häuflein Staub, gerade genug, um einen Fingerhut zu füllen. Da wusste die Hebamme, dass sie ihre Magd gefunden hatte und so kam Molly zu ihr auf den Hof.

 

Wie das Leben so ist, so ändert es sich, und es begann eine schöne Zeit. Die beiden Frauen bestellten gemeinsam die Äcker und kümmerten sich um die Ziegen, sie sammelten Kräuter für die werdenden Mütter und neugeborenen Menschlein und machten stärkende Tinkturen und Tees daraus, und abends saßen sie plaudernd vor dem Kamin, nähten und ließen das Spinnrad surren.

 

Nur wenn Vollmond war, dann schlich sich Molly abends aus dem Haus und kehrte erst am Morgen zurück. Lange sagte die Hebamme nichts, denn sie fand, es ging sie nichts an, doch als Molly nach den Vollmondnächten oft tagelang schweigsam und bedrückt war, und an den Tagen vor Vollmond unruhig und fahrig, da beschloss die Hebamme, der Magd zu folgen.

 

Beim nächsten Vollmond schlich sie hinter ihr her, durch das Dorf hindurch, in den großen Wald. Dort verlor sie ihre Magd aus dem Blick, und als sie sie wiederfand – da tanzte Molly ganz alleine auf einer Lichtung im Mondenlicht. Wie sie sich drehte und wendete, selig lächelnd, als hielte ein Mann sie in Armen. Wehmütig dachte die Hebamme daran, dass sie selbst das letzte mal bei ihrer Hochzeit so glücklich getanzt hatte und sie fand es traurig, dass Molly hier so alleine mit dem Mond sich drehte.

 

Mit keinem Wort erwähnte die Hebamme, was sie gesehen hatte, doch bald darauf kehrte Molly nach einer Vollmondnacht nicht zurück. Die Hebamme suchte sie, fragte ihm Dorf nach ihr, sie ging zu der Lichtung im Wald – doch nirgends eine Spur ihrer geliebten Magd, Molly blieb verschwunden.

 

Wie das Leben so ist, so ändert es sich, doch die Arbeit am Hof bleibt die gleiche und so nahm die Hebamme sich eine neue Magd, die war auch sauber und freundlich, aber doch vermisste sie Molly.

 

Spät eines stürmischen Abends klopfte es hektisch an der Türe der Hebamme. Noch ehe die Magd geöffnet hatte, hatte die Hebamme bereits ihre Tasche und ihren Umhang genommen, denn sie kannte diese Art Klopfen nur zu gut. Und tatsächlich, vor der Türe stand ein junger Mann, hager und in einem schäbigen Kittel, der sagte mit angstvollen Augen nur: "Meine Frau."

 

Die Hebamme nickte und ließ sich auf die Schindmähre helfen, die der Mann bei sich hatte, er stieg hinter ihr auf und schneller als sie erwartete hatte, ritten sie durch die Nacht.

 

Sie kamen in ein Tal, darin stand eine vom Vollmond beschienene schäbige, windschiefe Hütte. Die Hebamme stutzte, denn sie hatte gedacht, sie kenne jedes Haus und jede Hütte rund um ihr Dorf, doch diese war ihr unbekannt.

 

Sie wollte schon in die Hütte hineineilen, aus der die Schmerzensschreie einer Frau in den Wehen drangen, da nahm sie der hagere Mann am Arm und drückte ihr einen kleinen Salbentiegel in die Hand.

 

"Hier, streich das dem Kind über die Augen. Aber hüte dich, damit selbst in Berührung zu kommen."

 

Die Hebamme nickte, sie hatte schon sonderbarere Wünsche von werdenden Väter gehört. Sie steckte den Tiegel in ihre Schrürzentasche und betrat die Hütte.

 

Drinnen war es ebenso schäbig wie außen. Auf dem gestampften Lehmboden befand sich in einer Ecke ein Lager aus altem Stroh, mit einem fleckigen Laken bedeckt, und darauf, vor Schmerzen gekrümmt, lag Molly, ihre alte Magd.

 

So ist es mit dir also gekommen, dachte die Hebamme traurig. Doch nun war keine Zeit für Bedauern, ein Menschlein wollte auf die Welt und benötigte Hilfe.

 

Als der kleine Knabe endlich in den Armen der erschöpften Mutter lag, strich die Hebamme liebevoll ihrer Magd eine verschwitzte Haarsträhne aus dem Gesicht. Da fiel ihr die Salbe ein und sie nahm den Tiegel aus der Schürze und öffnete ihn. Ein wunderbarer Duft durchströmte die Hütte und vorsichtig strich die Hebamme dem Neugeborenen mit der Salbe über die Augen. Wie sie nun ihre geliebte Magd da liegen sah, auf dem schäbigen Lager, in dieser armseligen Hütte, da musste sich die Hebamme eine Träne aus dem Auge streichen, und sie merkte nicht, dass sie noch von der Salbe auf dem Finger hatte.

 

Als sie ihr Auge wieder öffnete – was war das? Wo war die Hütte? Sie stand in einem prächtigen Schlafgemach, mit glänzendem Parkettboden und hohen, goldgerahmten Fenstern. Molly lag in einem kunstvoll geschnitzten Bett, in seidige Wäsche gehüllt, und sie hielt das schönste Kind in Armen, das die Hebamme je gesehen hatte.

 

"Was ist das?", fragte die Hebamme verwirrt.

 

Erschrocken setzte Molly sich auf und fasste nach der Hand ihrer alten Freundin. "Was siehst du?" Und als die Hebamme ihr schilderte, da schlug Molly die Hand vor dem Mund und meinte: "Du meine Güte, du hast von der Feensalbe auf dein Auge bekommen! Versprich, dass du niemals jemandem davon erzählst, denn die Feen mögen es gar nicht, wenn jemand ohne ihre ausdrückliche Erlaubnis sie sehen kann!"

 

Die Hebamme schloss das Auge, da war sie wieder in der schäbigen Hütte – sie öffnete es, und es war der Palast.

 

In dem Moment kam Mollys Mann in das Schlafgemach, und auch er war kein hagerer Kerl, sondern ein stattlicher Mann in prächtiger Kleidung. Als die Hebamme sah, wie liebevoll der Feenmann Molly und das Kind betrachtete, da war sie es für ihre Freundin glücklich.

 

Wie das Leben so ist, so ändert es sich, und seit jener Nacht war alles verändert. Die Hebamme sah kleine Wesen, die mit den Blumen scherzten, sie sa dicknasige Kerlchen, die den Menschen auf dem Magd Streiche spielte, sie sah das leuchtende Muster auf dem schwarzen Gefieder der Amseln, die Küsse, die die Blätter dem Wind gaben.

 

Eines Tages war die Hebamme wieder auf dem Markt, da sah sie den Feenmann. Freudig lief sie zu ihm, denn sie hatte große Sehnsucht zu erfahren, wie es Molly und dem Kind ging.

 

"Wie geht es Molly, wie dem Kind?"

 

Verhalten antwortete der Feenmann, dass beide wohlauf seien. Das freute die Hebamme so, dass sie meinte: "Oh, er muss schon ein prächtiger kleiner Knabe sein! Wie wird er sich über den feinen Mantel freuen, den ihr ihm da mitbringt!"

 

Am Blick des Feenmannes erkannte sie, dass sie einen Fehler begangen hatte. Sie schloss ihr eines Auge, und da sah sie es – da stand nicht der prächtige Feenmann mit einem bestickten Kindermäntelchen am Arm, da stand der hagere Kerl mit einem löchrigen Sack.

 

Im nächsten Moment hatte der Feenmann sein Messer gezogen und von da an konnte die Hebamme auf ihrem Feenauge nichts mehr sehen.

 

Wie das Leben so ist, so ändert es sich. Dennoch war die Hebamme glücklich, auch wenn sie wieder nur sehen konnte, was alle sahen. Aber ihr war geschenkt gewesen, das Feenreich zu sehen mit all seinen Zaubern und sie würde es nie vergessen, dass es so vieles gab, was wir Menschen nicht sahen.