Geschichten der Bücherbardin: Wahre Freundschaft

 

Es war einmal vor langer Zeit, da flog ein kleiner brauner Vogel in einen wunderschönen Garten. Überall machte sich der Frühling bemerkbar, die Weiden ließen ihre Kätzchen an der frischen Luft spielen, die Hasel ließ ihre langen Blüten wie Fahnen im Wind wehen. Der kleine Vogel flog hierhin und dahin, pickte dort ein wenig nach einem alten Sonnenblumenkern, da ein wenig nach einem Wurm im lockeren Erdreich. Und wie er so durch den Garten hüpfte, auf der Suche nach leckerem Essen, da verfing sich sein zarter Fuß in einer hellgrünen Pflanze, die sich am Boden ausbreitete.

Als der kleine braune Vogel versuchte, seinen Fuß zu befreien und ein wenig fester anzog, da riss er gleich ein wenig von der Pflanze aus dem Boden. Zarte weiße Wurzelchen hingen traurig von hellgrünen Blättchen herab.

"Au", jammerte die Pflanze. "Nicht schon wieder ausreißen. Warum wollen mich alle nur immer ausreißen?"

"Entschuldige", sagte der kleine Vogel. "Ich hatte das echt nicht vor. Es war ein Unfall."

"Ach, tatsächlich. Dann bist du aber eine Ausnahme. Kaum sieht mich die Bäuerin in ihrem Gemüsebeet, da reißt sie schon an mir. Sie meint, ich sei Unkraut, dabei habe ich so viel zu bieten." Die kleine Pflanze schluchzte. "Niemand sieht meinen wahren Wert!"

Der kleine Vogel schluckte. Ja, das kannte er nur zu gut. Die Menschen mochten seinen Gesang, wenn er den Morgen trällernd begrüßte, doch kaum einer wusste, dass er es war, der da so prächtig sang. Und wenn sie ihn sahen, dann deuteten sie auf ihn und sagten: "Sieh, so ein fader brauner Vogel. Ist das ein Drecksspatz?"

"Weißt du", sagte die grüne Pflanze, "es ist schon traurig. Sieh an, wie die Menschen die Blumen bewundern, weil sie so schön blühen. Sie haben Blumen gezüchtet, die keinerlei Nutzen mehr für die Bienen haben. Die nur schön sind, aber für alle ungenießbar. Und unsereiner, der nahrhaft ist und gesund, der schon unter dem Schnee zu wachsen beginnt, damit Mensch und Tier nach dem Winter zu essen haben, unsereiner wird als Unkraut ausgerissen."

"Vielleicht sehen dich die Menschen einfach nicht? Weil du doch so flach am Boden wächst..."

"Aber was! Sie sehen mich gut genug, um mich auszureißen! Nein, die Menschen sind wie die Bienen, sie werden von bunten Farben und strahlenden Lichtern angelockt. Nur dass sie halt keinen Honig produzieren können, die Menschen. Schau sie nur an, am Abend, wenn es dunkel wird. Da sitzen sie dann und starren die leuchtenden Sterne an, die unendlich weit weg sind. Von den Sternen träumen sie, die Sterne bewundern sie." Das Pflänzlein seufzte. "Du und ich, wir sind einfach zu unscheinbar."

 

Von da an besuchte der kleine Vogel jeden Tag die zartgrüne Pflanze. Er hatte eine verwandte Seele gefunden und bald waren die beiden Freunde geworden. Doch eines Tages fand er seine Freundin zitternd und weinend vor.

"Heute war die Bäuerin im Gemüsegarten und sie hat die Hälfte der Beete gejätet. Morgen schlägt wohl mein letztes Stündchen. Sie wird kommen und mich ausreißen. Wenn ich Glück habe, regnet es und meine zarten Wurzeln können auf dem Komposthaufen Halt finden, ehe sie vertrocknen."

Der kleine Vogel bekam furchtbares Mitleid mit seiner Freundin. Warum sahen die Menschen nur nie, welche Schätze es vor ihrer Nase gab? Was war an den weit entfernten Sternen denn wertvoller als an seiner Freundin? Konnten Sterne den Menschen ernähren?

Plötzlich wusste der kleine Vogel, was er tun musste. Ja, wenigstens seine Freundin sollte nicht unbeachtet bleiben.

Ohne ein weiteres Wort flog er davon. Höher und höher flog er. Der Tag neigte sich dem Abend und noch immer stieg der kleine Vogel in den Himmel hinauf, höher und höher. Als es Nacht war, erreichte er die ersten Sterne. Er suchte die kleinsten aus und nahm so viele er halten konnte in seinen Schnabel. Das Licht der Sterne blendete ihn und die Hitze, die sie abgaben, brannte auf seiner Brust. Doch er ließ auch nicht einen von ihnen los.

 

So rasch er konnte flog er zurück zu seiner Freundin. Als der Morgen dämmerte, erreichte er den Gemüsegarten. Er sah bereits die Bäuerin, die den Weg entlangkam. Mit letzter Kraft ließ der Vogel die vielen Sterne los und sie regneten auf seine Freundin. Kaum berührten die Sterne die grünen Blätter, verwandelten sie sich in zarte, sternförmige Blüten, die weiß aus dem hellen Grün herausleuchteten.

Die Bäuerin blieb erstaunt stehen. Wie zart und hübsch diese Pflanze nun aussah! Erstmals wurde ihr bewusst, dass das üppige Wachstum der Pflanze eigentlich ein Segen sein könnte. Sorgsam pflückte die Bäuerin ein wenig von der Pflanze für ihren Salat und genoss den kühlen, mais-artigen Geschmack.

Und auch wenn für viele Menschen die Vogelmiere nach wie vor ein Unkraut ist, wer genauer hinsieht, entdeckt in ihr den Reichtum des Sternenhimmels.

 

Und der kleine Vogel? Ihr kennt ihn alle, nicht nur wegen seines schönen Gesangs. Noch heute trägt das Rotkehlchen den roten Brustfleck, der uns daran erinnert, was Freunde für Freunde tun.

 

 

 

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Die Wortflechterin der Kelten, historische Romanserie
Die Wortflechterin der Kelten, historische Romanserie

Randbemerkung: Ich bin Autorin, keine Historikerin, Archäologin oder Zeitreisende (das wäre spannend ...), ich gebe in meinem Blog einerseits nur meine Meinung weiter und andererseits Wissensbissen, die ich im Zuge meiner Recherchen für meine Keltenromane aus den verschiedensten Quellen zusammengetragen habe. Da ich jemand bin, der sich zwar Informationen und Geschichten merkt, aber nicht wissenschaftlich arbeitet, verzeiht bitte, dass ich (meist) keine Quellenangaben mache, schon gar nicht zu Wissensbissen, die man in vielen Quellen findet.

 

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