Geschichten der Bücher Bardin: Tam Lin

Hier eine meiner liebsten Liebesgeschichten. Es ist dies eine alte Legende, die im englischsprachigen Raum durch eine Ballade aus dem 16. Jahrhundert sehr bekannt wurde und sich in vielen Varianten in vielen Liedern und sogar Filmen wiederfindet.

Wenn du der Geschichte lieber lauschen als sie lesen willst, so kannst du das HIER tun.

 

 Es war einmal ein keltischer Stammesführer, der hatte eine Tochter namens Oisra. Sie war ein hübsches Mädchen, klug und lieblich – und mit einem enormen Dickschädel.

So kam nun die Zeit, als Oisra zur Frau wurde und ihr Vater überlegte, welchem Mann er sie zur Gattin geben sollte. Ein paar der jungen Männer im Dorf kamen ihm schon in den Sinn, die auch Manns genug waren, um es mit Oisras Dickkopf aufzunehmen, aber da er seine Tochter liebte, rief er sie zu sich.

Oisra, du bist nun alt genug, um zu heiraten. Ich will dir die Wahl unter den jungen Männern des Dorfes lassen. Sage nur, welchen du heiraten willst.“

Oisra spielte gedankenverloren mit ihren langen Zöpfen, während sie vor ihrem inneren Auge die Jünglinge des Dorfes durchging. Nun, der war zu alt. Und der zu jung. Der – zu dick, der zu mager. Jener zu dumm, der zu besserwissersich. Der zu häßlich, der zu eitel … Sie wusste sehr wohl zu schätzen, dass ihr Vater ihr hier so viel Freiheit ließ, und wollte ihm durchwegs eine Freude machen, doch so sehr sie sich auch bemühte, am Ende kam sie immer zu demselben Schluss: ”Vater, da ist keiner dabei. So gerne ich einen wählen würde, aber es ist kein Einziger dabei, den ich lieben könnte.“

Lieben? Wer redet von lieben? Ich rede von heiraten!“ sagte ihr Vater beleidigt.

Nein Vater, ich werde nur einen Mann heiraten, der mein Herz klopfen lässt und den ich liebe.“

Verärgert, dass seine Großmütigkeit nicht geschätzt wurde, sagte ihr Vater: "Herzklopfen! Dir werde ich Herzklopfen geben! Entweder du entscheidest dich bis morgen früh, wen du heiratest, oder ich werde eine Wahl treffen! Also geh auf dein Zimmer!"

Und Oisra ging – aber nicht nur auf ihr Zimmer. In jener Nacht nahm sie ihren Umhang und verließ das Dorf.

Sie wanderte und wanderte, sie kam zu anderen Höfen, zu Dörfern, zu Städten. Sie traf junge Männer und alte, dicke und dünne, redsame und stumme. Doch bei keinem pochte ihr Herz.

 

Schon etwas verzweifelt kam sie eines Tages zu einem Wald – es war nicht der erste Wald, zu dem sie kam, aber jener Wald, der schien besonders – besonders dunkel, besonders dicht, besonders still.

Oisra zögerte, ihn zu durchwandern, doch der Wald war so groß, dass weder links noch rechts ein Ende zu sehen war.

War dies das Ende ihrer Wanderung? Sollte sie umkehren und sich dem Willen ihres Vaters fügen? Nach der langen Zeit der einsamen Wanderung kamen ihr einige der Männer in ihrem Dorf gar nicht so übel vor.

 

Wie Oisra da so saß, entdeckte sie am Waldesrand einen Rosenbusch, der trug, obwohl es schon Herbst war, dermaßen schöne Blüten, dass sich ein Lächeln in ihr müdes Gesicht zauberte. So eine Rose wollte sie pflücken und bei sich tragen, um nicht den Mut zu verlieren.

Kaum hatte sie eine Blüte vom Strauch gebrochen – knack – stand ein Mann vor ihr, groß und breitschultrig, mit einem dunkelgrünen Umhang und bösem Blick.

Wer wagt es, eine Rose zu brechen?“

Oisra erschrak: ”Verzeiht, ich wusste nicht, dass die Rosen jemandem gehören. Ich bin Oisra und habe einen weiten Weg hinter mir. Als ich die Rose sah, da schien sie mir so schön und tröstlich, dass ich sie bei mir tragen wollte, um nicht den Mut zu verlieren.“

Da kam ein zögerliches Lächeln in das Gesicht des Fremden und es schien, als wäre es das erste Lächeln seit Jahren, das sich auf seine Lippen legte.

Ja, sie sind schön, die Rosen, doch das bist du ebenso. Deshalb will ich so tun, als hätte ich es nicht gesehen. Doch höre auf mich, kehre um, gehe nicht durch diesen Wald! Dies ist Feenreich, und wenn du den Wald betrittst, wirst du ihn nicht mehr verlassen können.“

Als Oisra den bärtigen Mann so lächeln sah und seine tiefe, melodische Stimme an ihr Ohr drang, da fing ihr Herz an, wie verrückt zu pochen.

Wer bist du, Wächter des Waldes?“

Ja, ich bin der Wächter des Waldes, doch einst war ich Tam Lin. Wisse, auch ich war einmal ein sterblicher Mensch und wie ich wünschte, es wieder sein zu können! Doch als ich eines Tages durch diesen Wald ritt, da überfiel mich eine bleierne Müdigkeit, dass ich von meinem Pferd stürzte und schlafend liegen blieb. Als ich wieder erwachte, war ich mitten im Feenreich gefangen, und so schön und verlockend die Königin ist, ich vermisse mein Leben als Mensch sehr.“

Tam Lin stand im Schatten der mächtigen Bäume, während Oisra im hellen Sonnenschein weilte. Nun machte sie einen zögerlichen Schritt auf das bedrohliche Dunkel zu.

Wenn ich den Wald betrete, könnte ich dann mit dir Wächterin des Waldes sein?“

Tam Lin trat ihr in den Weg, konnte aber nicht die Grenze des Waldes überschreiten: ”Tu es nicht, liebe Oisra, man weiß nie, was der Feenkönigin einfällt. Sie ist sehr mächtig und besitzsüchtig.“

Nachdenklich machte Oisra einen Schritt zurück. Ihr Herz pochte so laut, dass für sie klar war, sie würde diesen Mann nicht mehr verlassen können.

Ja dann, gibt es keine Möglichkeit, dich aus dem Feenreich zu holen?“

Es gibt sie, doch es ist mit großer Gefahr verbunden, ich möchte dich nicht dieser Gefahr aussetzen, denn du bist das liebreizendste Wesen, das ich je gesehen habe und ich könnte nicht ertragen, wenn dir etwas geschieht.“

Und ich weiß jetzt schon, dass ich es nicht ertrage, ohne dich zu sein.“

Lange standen die beiden da, sie auf der Wiese, er im Wald, und blickten einander an. Hätte man ein feines Ohr gehabt, so hätte man gehört, wie ihre Herzen im gemeinsamen Takt schlugen, schnell und laut. Sie hätten wohl ewig so stehen können, doch wie es so ist, wenn man nichts sehnlicher will, als zueinander zu kommen und es nicht kann, irgendwann wird der Zustand unerträglich.

Verrat mir, wie ich dich erlösen kann und lass mich selbst entscheiden, ob ich es wage.“

Nun gut, in drei Nächten ist Samhain, und in jener Nacht reiten wir Feen aus dem Wald. Du musst dich hier am Waldrand verstecken – aber komme ja nicht in den Wald herein! Als Erstes wird eine Schar Reiter kommen, von der Königin angeführt. Halte dich versteckt. Dann kommt eine zweite Schar, halte dich versteckt. In der dritten Schar werde ich sein, auf einem weißen Pferd. Wenn du mich siehst und wenn der letzte Huf meines Pferdes den Wald verlassen hat, dann musst du mich vom Pferd reißen und fest an dich drücken. Egal was dann geschieht, lass nicht los. So kannst du mich befreien.“

Das klingt nicht so schwer, dachte sich Oisra.

Tief aus dem Wald erklang ein eigenartiger Pfiff und sofort zog Tam Lin sich zurück, nicht ohne Oisra ein Lächeln zu schicken.

 

Die nächsten Tage wartete Oisra am Waldesrand. Tam Lin erschien nicht mehr und sie hatte schon Sorge, dass sie ihn nie wieder sehen würde.

Doch dann, als die dritte Nacht hereinbrach, die Nacht von Samhain, in der die Übergänge zwischen der Menschen- und der Anderswelt offen sind, da vernahm sie aus dem Wald leises Hufgetrappel. Eilig versteckte sie sich am Waldesrand. Und richtig, eine Schar Reiter galoppierte an ihr vorbei, allen voran die Königin auf einem silbrigen Pferd, mit silbernem Sattel und Zaumzeug. Das lange, silberne Haar der Herrscherin wehte im Wind und sie sah wunderschön aus. Oisra war von ihrem Anblick so verzaubert, dass bereits die zweite Schar Reiter an ihr vorbei war, ehe sie wieder denken konnte. Gerade noch rechtzeitig, denn schon nahte die dritte Schar und, vorsichtig aus ihrem Versteck blickend, sie erspähte Tam Lin, der sich mit seinem weißen Roß am Rande der Reiter hielt.

Warten, warten – da, der letzte Huf seines Pferdes verließ den Schatten des Waldes, Oisra stürzte auf ihn zu, riss den Geliebten vom Pferd und drückte ihn fest an sich.

Ein Moment der Stille, dann - plötzlicher Tumult, Reiter hielten an, Stimmen riefen durch die Nacht: ”Tam Lin ist verschwunden!“

Die Feenkönigin zügelte ihr Pferd, riss es herum und preschte zurück. Ihr Blick traf Oisra und der lief es eiskalt über den Rücken.

Ach wie niedlich, eine kleine Sterbliche, glaubt, hier die Heldin spielen zu können.“

Trotzig hielt Oisra dem Blick der Königin stand. Doch sie spürte, wie auf eine Geste der Herrscherin hin, Tam Lin in ihren Armen zu schrumpfen begann. Immer kleiner und kleiner wurde er, bis er sich in eine Maus verwandelt hatte. Oisra hielt das zappelnde Tierchen fest an ihre Brust gedrückt, in Sorge, es zu zerdrücken oder loszulassen, aber sie fand das rechte Maß.

Sieh an, vor Mäusen fürchtest du dich also nicht. Wie ist es damit?“

Wieder eine Geste. Weiterhin zappelte Tam Lin in Oisras Händen, doch nun wurde er immer länger und länger und verwandelte sich in eine Schlange, die zischend ihre spitze Zunge in Oisras Gesicht züngelte. Doch auch diesmal hielt Oisra den Geliebten fest, den Blick auf die Feenkönigin gerichtet. Sie würde ihren Dickkopf nicht brechen.

Und wieder verwandelte sich der Feenritter. Die Schlange wurde starr und fest, ein schweres Stück Eisen. Und dieses Eisen begann immer heißer zu werden, bis es rot glühte. Entschlossen sah Oisra der Königin in die Augen, und hielt die glühende Stange fest an ihre Brust gedrückt, Schmerzenstränen rannen ihr über die Wangen, der Geruch von verbranntem Fleisch breitete sich aus, doch sie würde nicht aufgeben, um nichts in der Welt.

Da endlich wandte sich die Königin mit einem verächtlichen Schnauben ab. Als sie mit der Feenschar davonstob, ließ sie ihrem Unmut über die Niederlage in einem schrillen Schrei freien Lauf. Mit einer großen, wegwerfenden Geste gab sie Tam Lin sein Menschendasein zurück.

Als er wieder als Mensch vor Oisra stand, brach sie vor Erleichterung und Schmerz zusammen.

Tam Lin bettete sie auf weiches Moos und verband ihre Wunden mit Auflagen aus den Blüten der Rose am Waldesrand.

 

Als Oisra kurze Zeit später die Augen wieder aufschlug, waren ihre Wunden dank der Zauberrose bereits verheilt und glücklich und eng umschlungen machten sich die beiden auf den Weg, um Oisras Vater jenen Mann vorzustellen, den sie bereit war zu heiraten – von ganzem, pochenden Herzen.

 

Tauch ein in die Welt der Kelten und fühle ihren Pulsschlag in dir!

Die Wortflechterin der Kelten, historische Romanserie
Die Wortflechterin der Kelten, historische Romanserie

Randbemerkung: Ich bin Autorin, keine Historikerin, Archäologin oder Zeitreisende (das wäre spannend ...), ich gebe in meinem Blog einerseits nur meine Meinung weiter und andererseits Wissensbissen, die ich im Zuge meiner Recherchen für meine Keltenromane aus den verschiedensten Quellen zusammengetragen habe. Da ich jemand bin, der sich zwar Informationen und Geschichten merkt, aber nicht wissenschaftlich arbeitet, verzeiht bitte, dass ich (meist) keine Quellenangaben mache, schon gar nicht zu Wissensbissen, die man in vielen Quellen findet.

 

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Kommentare: 1
  • #1

    Sabine Siebert (Sonntag, 19 Februar 2023 12:15)

    Liebe Marion,
    eine wunderschöne Geschichte.
    Ich lese gerne deine Geschichten und Bücher. Und würde gerne in deinen Rundbriefen noch mehr von b lesen.
    Liebe Grüße Sabine